Editorial 1-2021: ENERGIE-WENDEZEIT

Editorial von Irm Scheer-Pontenagel, erschienen im Solarzeitalter 1 – 2021

„Klimaschutzdiskussionen werden generell als hemmend für die wirtschaftliche Entwicklung wahrgenommen … Dieses Problem würde es nicht geben, wenn man statt internationaler Reduktionsverpflichtungen prozentual steigende nationale Pflichtquoten zur Substitution fossiler Energien durch Erneuerbare Energien festlegte“.

Hermann Scheer (1944 – 2010)

Das „Umweltkriegsverbot“ ist seit 1977 Bestandteil des Internationalen Rechts. Laut Artikel 1 verpflichtet sich jeder Vertragsstaat, „umweltverändernde Techniken, die weiträumige, langandauernde oder schwerwiegende Auswirkungen haben, nicht zu militärischen Zwecken oder in sonstiger feindseliger Absicht als Mittel zur Zerstörung, Schädigung oder Verletzung eines anderen Vertragsstaats zu nutzen“. Doch gleichzeitig eskaliert der zivile Weltkrieg gegen die Umwelt, der von keinem Vertrag verboten ist. Er wird ausschließlich einseitig geführt gegen Kräfte, die keine Feinde, sondern die elementaren Lebensgrundlagen der Menschen sind. Dürreperioden, alles niederreißende Stürme, die Ausweitung von Wüstengebieten, Überschwemmungskatastrophen beginnen sich zu entfalten. So beschrieb es Hermann Scheer 1995 in der Einleitung zu seinem Buch Sonnen-Strategie – Politik ohne Alternative. Danach kritisiert er scharf die Ergebnisse der Klimakonferenz von Rio de Janeiro 1992. Es reiche nicht, den Anteil der Erneuerbaren Energien von 10 auf 30 oder 50 Prozent zu steigern, sondern Ziel müsse das vollständige Ersetzen der herkömmlichen Energiequellen durch die Energie der Sonne sein. Wie vorausschauend und weitsichtig diese Gedanken und Forderungen waren – gerade jetzt nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts angesichts der bedrohlichen Entwicklung unseres Wirtschaftens für weitere Generationen. Der Beitrag unter dem Stichwort „Wieder gelesen“ erinnert daran (Seite 40). Auch die Pandemie hat im Gesundheitswesen gezeigt, wie verhängnisvoll es sein kann, wenn gesellschaftliche Vorsorge keine vorausschauende ist. Wenn nur noch reagiert werden kann, um Schlimmeres zu verhindern. Vorsorge heißt wissenschaftliche Forschungs- und gesellschaftliche Erkenntnisse frühzeitig zu berücksichtigen. In Demokratien brauchen Entscheidungsprozesse Zeit. Diese politisch einzuplanen ist vorausschauende Politik.

Das bahnbrechende Urteil des Bundesverfassungsgerichts setzt in Deutschland nun neue Maßstäbe, die weltweit Beachtung finden – mit der Schutzpflicht des Handlungsspielraums weiterer Generationen zur Begrenzung klimarelevanter Emissionen und damit zur Eindämmung der Klimaerwärmung. Die Bundesregierung wird angehalten, die Zielvorgaben über den Zeitrahmen bis 2030 hinaus zu konkretisieren. Dem wird sie nachkommen, wie alle Beteiligten betonen. Ob dem Thema gerechte Ergebnisse in der Kürze der Zeit bis zum Ende der Legislaturperiode – bei den zu erwartenden unterschiedlichen Standpunkten – möglich sind, bleibt abzuwarten.

Der Klimavertrag von Paris strebt das klimaneutrale Wirtschaften der Gesellschaften an. Wenn heute die oft verbissene Diskussion um das Erreichen des Ziels – 2030/40 oder erst 2050 – in einer Art „Glaubenskrieg“ feststeckt, ist zu befürchten, dass bei dieser Klimadebatte bewusst/unbewusst oder gewollt die Beantwortung der wesentlichen Fragen abhanden kommt: Wie und mit wem werden die Ziele umgesetzt? Der von Menschen gemachte und zu bekämpfende Klimawandel beruht seit der Industrialisierung auf der Nutzung fossiler Energien. Die Zielvorgabe „Klimaneutralität oder Dekarbonisierung“, definiert über CO2-Emissionen in Jahreszahlen oder Grad-Ziel, übersieht, dass es sich um die Ablösung des atomar fossilen Energiesystems durch das nicht fossile System der Erneuerbaren Energien handelt.

Ein Energiesystem kann nur dann klimaneutral sein, wenn es sich ausschließlich aus der permanent vorhandenen Energie bedient: 100 % Sonnenenergie in all ihren Formen. Diese Art der Energiegewinnung findet dezentral mit neuen Akteuren und Investoren statt. Zielvorgaben müssen sich daher in jedem Land an diesen Bedingungen orientieren. Zentralisierte Vorgaben können nur Ziele formulieren; die gestaltende Umsetzung muss regional erfolgen.

Die Vergabe von CO2-Zertifikaten im Rahmen des Emissionshandels (ET), der schon seit seiner Einführung umstritten war und durch undurchschaubare oder kriminelle Praktiken in Verruf gekommen ist, sollte kritischer auf seine „ablenkende“ Wirkung überprüft werden. Wenn in der politischen Diskussion von zwei Möglichkeiten zum Erreichen der Klimaneutralität gesprochen wird, wobei Erneuerbare Energien (EE) und ET als quasi gleich wirkende Mechanismen dargestellt werden, so ist das ein unredliches Ablenkungsmanöver. Wenn bis heute, und das seit über fünfzehn Jahren, die politisch – nicht wissenschaftlich! – bestimmte Bepreisung weiterhin unter ihrer Wirksamkeit liegt, sichert der ET den Einsatz fossiler Energien und behindert den EE-Ausbau. Einnahmen aus diesem Geschäft sind ein „Ablasshandel“, getragen von einer Bürokratie als ein sich selbst referenzierendes System. Wenn Emissionen einen Preis haben sollten, dann im Rahmen einer Steuer nach dem Verursacherprinzip ohne eine zusätzliche unnötige Bürokratie. Bleibt die Frage: Warum wird an diesem Instrument ET festgehalten? Es liegt die Annahme nahe, dass in der EU und auch in Deutschland interessenbedingt auf einen langen „Transformationsprozess“ gesetzt wird und dazu ist ein ET mit einer Bepreisung unter seiner Wirksamkeit hilfreich. Wie schnell der Begriff „Klimaneutralität“ in der Berechnung von Zuteilungen zu spitzfindigen Berechnungen von CO2-Senken führt, legt der Beitrag von Konrad Scheffer offen (Seite 51).

Vor fünfzehn Jahren führten EUROSOLAR und der Weltrat für Erneuerbare Energien (WCRE) die erste IRES (International Renewable Energy Storage Conference) unter hoher öffentlicher Aufmerksamkeit durch, denn die Frage der Speicherung von Energie im Rahmen eines Energieversorgungssystems spielte zwar unter Fachleuten, nicht aber in der allgemeinen Öffentlichkeit eine besondere Rolle. Entsprechend wurden weder die Themen der Energiespeicher oder Stromnetze noch des dynamischen Lastmanagements und die sektorenübergreifende Zusammenführung des Energiesystems diskutiert, noch wurde von einem wirklich systemrelevanten EE-Anteil ernsthaft ausgegangen. Erst mit dem rasanten Ausbau nach dem Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) wurde in Deutschland die Diskussion über diese Möglichkeiten kontrovers geführt. Dirk Uwe Sauer hat EUROSOLAR von Anfang an beim Aufbau und bei der Durchführung dieser bedeutsamen jährlichen internationalen Konferenz unterstützt. In einem Interview berichtet er über diese erfolgreiche Zusammenarbeit (Seite 11).

Im Rahmen der Energiewende wird Wasserstoff als Energieträger der Zukunft mit großen Hoffnungen verbunden. Die Diskussion darüber, welche Rolle dem Wasserstoff zukommen soll, ist offen. Sie beginnt bei der Klimafrage und der Forderung nach klimaneutralem gesellschaftlichem Wirtschaften. Hier kann der Wasserstoff in vielen Bereichen, wo der direkte EE-Einsatz nicht möglich ist, hilfreich sein. Da Wasserstoff allerdings keine Primärenergiequelle darstellt, sondern energieintensiv mit einer anderen Energiequelle hergestellt werden muss, besteht in diesem Zusammenhang die Forderung: Klimaneutraler Wasserstoff sollte nur unter EE-Einsatz erzeugt werden. Solange allerdings der EE-Ausbau weiterhin durch falsche politische Rahmenbedingungen behindert wird, heißt die Sprachregelung: Wir brauchen zum schnellen Ausbau der Wasserstoffkapazitäten eine „Brücke“. Das weckt Erinnerungen an die Diskussion um den Ausstieg aus der Atomkraft. Laufzeitverlängerung, als „Brückentechnologie“ bezeichnet, lautete damals die verschleiernde Wortschöpfung. Auch jetzt soll an fossilen oder atomaren Quellen „für den Übergang“ festgehalten werden. In Frankreich wird es der überschüssige Atomstrom sein und in Deutschland wird man auf Gas setzen. Investitionen, die in diese Bereiche fließen, verhindern den schnellen EE-Ausbau. Wolfgang Palz gibt in seinem Beitrag und in einem Interview einen Überblick zur Weltlage in dieser Frage (Seite 30). Dezentrale Beispiele belegen zudem, wie „grüner“ Wasserstoff eine regionale Energieversorgung unterstützen kann (Seite 36).

In diesem Jahr jährten sich zwei für die Menschheit gravierende Ereignisse: 10 Jahre Fukushima und 35 Jahre Tschernobyl. Atomkraftwerke und ihre Technik sind weder berechenbar noch beherrschbar. Die Geschichte hat gezeigt, dass die Atomenergie in ihrer militärischen Anwendung und auch bei der Energieversorgung den Menschen unendliches Leid gebracht sowie die Umwelt mit hoher Radioaktivität belastet hat: Über 2.000 Atomtestexplosionen seit 1945 und 34 Atomkraftwerksunfälle. Die Ächtung von Atomwaffen wird von großen Teilen der Weltbevölkerung geteilt. Das Inkrafttreten des Atomwaffenverbotsvertrages – am 22. Januar 2021 von 50 Ländern ratifiziert, Deutschland ist nicht dabei – bestätigt dies. Nationale Regierungen sehen es aber weiterhin als ihr zweifelhaftes Recht an, Atomwaffen als Vernichtungswaffen zur „Abschreckung“ zu besitzen und wie aktuell angekündigt auszubauen.

Die Nutzung der Atomkraft – „friedlich“ oder militärisch – bleibt eine permanente Bedrohung der Menschheit sowie Mahnung und Anstoß zugleich, die Energiesystemwende mit Erneuerbaren Energien noch entschiedener einzufordern und die Bundesregierung politisch zu motivieren, dem Atomwaffenverbotsvertrag zügig beizutreten. Mycle Schneider beantwortet als ausgewiesener Experte in einem Interview dazu aktuelle Fragen (Seite 25).

In diesem Jahr führte EUROSOLAR in Partnerschaft mit den Stadtwerken Speyer die 14. Stadtwerke-Konferenz durch. Margit Conrad gibt einen Überblick über den erfolgreichen Verlauf der Veranstaltung, ergänzt durch den Beitrag von Wolfgang Bühring, Geschäftsführer der Stadtwerke Speyer, mit weiteren Beiträgen von Referenten der Konferenz (Seite 53). Franz Alt bringt es in seinem Beitrag auf den Punkt: „Bürger zur Sonne, zur Freiheit“ oder „Solarier aller Länder, vereinigt euch!“