Atomkraft – zwei Seiten einer Technik

Mycle Schneider ist Autor und Herausgeber vom jährlich erscheinenden World Nuclear Industry Status Report (WNISR) und arbeitet als unabhängiger Berater für Regierungen und internationale Organisationen auf der ganzen Welt

Interview mit Mycle Schneider, erschienen im SOLARZEITALTER 1  2021

Am 11. März 2021 jährte sich die Naturkatastrophe mit der Kernschmelze von drei Atomreaktoren in Fukushima zum zehnten Mal. Die Geschichte hat gezeigt, dass die Atomenergie in ihrer militärischen Anwendung aber auch bei der Energieversorgung den Menschen unendliches Leid gebracht hat und der Umwelt eine hohe radioaktive Belastung. Die Ächtung von Atomwaffen wird von großen Teilen der Weltbevölkerung geteilt. Das Inkrafttreten des „Atomwaffenverbotsvertrags“ – am 22. Januar 2021 von 50 Ländern ratifiziert – Deutschland ist nicht dabei – bestätigt dies. Nationale Regierungen sehen es aber weiterhin als ihr zweifelhaftes Recht, Atomwaffen als „Vernichtungswaffen“ zur „Abschreckung“ zu besitzen. Eine ethische Frage, die leider in der Politik und in der Öffentlichkeit zu wenig diskutiert wird. 

Der Aufbau und Betrieb von Atomkraftwerken ist kostspielig. Ein solches Versorgungssystem kann weder ohne staatliche Subventionen eingeführt noch aufrechterhalten werde. Trotz offener Entsorgungsfrage des atomaren Abfalls war die Atomkraftnutzung in Deutschland lange Zeit gesellschaftlich in großen Teilen akzeptiert. Erst mit dem Unfall des Kraftwerks in Tschernobyl  und der Anti-Atomkraftbewegung gab es den ersten Ausstiegsbeschluss in Deutschland, der dann aber durch den Wechsel der Regierung über den Beschluss 2010 zur Laufzeitverlängerung der Atomkraftwerke, zurückgenommen wurde. Es bedurfte erst einer weiteren Katastrophe – 2011 in Fukushima – um den Ausstiegsbeschluss zu erneuern, allerdings nun mit hohen Entschädigungszahlungen für die Betreiber. 

SOLARZEITALTER: Das Erschrecken über das Zusammentreffen eines Naturereignisses und dem Technikversagen hat der Welt die Augen dafür geöffnet, dass „Undenkbares“ geschehen kann auch in einem hochindustrialisierten Land. Trotzdem wird nicht nur in Japan der Betrieb von Atomkraftwerken weiter gehen. Wie bewerten Sie die kontroverse Diskussion dieser Situation in Japan? 

Mycle Schneider: Seit dem Beginn der Katastrophe in Fukushima vor zehn Jahren hat sich die Mehrheit der japanischen Bevölkerung absolut konsequent für den Ausstieg aus der Atomenergie ausgesprochen. Unzählige Gerichtsverfahren wurden gegen die Wiederinbetriebnahme von Reaktoren angestrengt. Aber Mehrheitsmeinungen und Prozesse sind noch keine Politik. Die Interessenverzwickung von Betreibern, Banken und Politik stellt eine mächtige Barriere für Wandel dar. Doch trotz dem nachdrücklichen Wunsch der Abe-Regierung und ihrer Nachfolgerin, haben nur neun von 54 pre-3/11 AKWs eine Genehmigung für die Wiederinbetriebnahme erhalten. Übrigens sind davon wiederum nur vier zurzeit in Betrieb. Ob vier oder 54 ist ein gewaltiger Unterschied.

SOLARZEITALTER: Bei der Bewältigung der Umweltschäden bemüht sich Japan um Schadensbegrenzung. Die Atomkraftwerksbetreiber stehen vor dem Problem nicht nur die kontaminierte Erde entsorgen zu müssen, sondern auch das in großen Tanks aufgefangene radioaktiv belastete Kühlwasser aus Kapazitätsgründen nicht mehr speichern zu können. Es steht zu erwarten, dass ein Abfluss ins Meer erfolgen wird. Für wie gefährlich halten Sie diese Lösung? Erwarten Sie Proteste im Land oder anderer betroffener Ländern?

Mycle Schneider: Der Betreiber TEPCO ist keine Firma spezialisiert auf Atomkatastrophenmanagement. Es wurde und wird deshalb ausgiebig improvisiert. Die Problematik des Standortes Fukushima Daiichi ist so unglaublich komplex, dass es nicht nur die Kapazitäten eines Kraftwerkbetreibers, sondern auch der japanischen Nation bei weitem überschreitet. Ich habe jahrelang versucht, das Konzept einer Internationalen Fukushima Task Force zu propagieren. Alle fanden es eine tolle Idee, einschließlich deutscher Botschaft und der EU-Vertretung in Tokio. Passiert ist nichts. Das große Problem war, dass es auf der japanischen Seite niemand gab, der zog. „You can‘t push a rope“, dt. „Du kannst ein Seil nicht schieben“ heißt ein altes Sprichwort.

Nun geht die Katastrophe weiter. Das ist ganz logisch. Bei dem starken Erdbeben vom 13. Februar 2021 wurden die Reaktoren weiter beschädigt, und in Block 1 muss nun ein Viertel mehr Kühlwasser stündlich eingeführt werden, um den geschmolzenen Kern zu kühlen. Die potentielle Ableitung ins Meer der auf über eine Million Kubikmeter angewachsenen Menge kontaminierten Wassers steht vor vielen Problemen. Ein großer Teil entspricht nicht einmal den umstrittenen vorgeschlagenen Grenzwerten und muss deshalb weiter dekontaminiert werden. Die Dekontaminierungsanlagen habe bisher nicht geliefert was versprochen war. Die Opposition gegen das Vorhaben steht schon lange. Es sind vor allem die Fischer, die keine neue Kontaminierung und damit Rufschädigung ihrer Produkte wollen. Für die gesellschaftlich und international politisch akzeptierte Durchführung des Plans würde es einer unabhängigen strikten Kontrolle der Kontaminationswerte vor Meereseinlass bedürfen.

SOLARZEITALTER: Japan würde aber an der weiteren Nutzung der Atomkraft und dem Betrieb auch dieses Kraftwerks festhalten. Wie kann sich der Weiterbetrieb für den Betreiber noch rechnen?

Mycle Schneider: Kein AKW-Betrieb ist in Japan noch wirtschaftlich. Doch wenn ein AKW-Betreiber einen Meiler offiziell vom Netz nimmt, dann steht er in der Bilanz nicht mehr in der Aktiva-Spalte sondern wird zu Passiva. Anders ausgedrückt, aus Besitz wird Belastung. Dann beginnen die Kosten, ohne jede Aussicht auf Einnahmen. Deshalb sind von den ursprünglich 54 japanischen AKWs 24 immer noch in der Rubrik „Langzeit Ausstand“[1], obwohl die meisten nicht die geringste Chance haben, jemals wieder Strom zu produzieren. Außerdem gehört es nicht zu den Stärken der japanischen Kultur, Schwächen zuzugeben.

SOLARZEITALTER: Es gibt Szenarien die zeigen, dass Japan sich fast vollständig über die Nutzung Erneuerbarer Energien versorgen könnte. Wie wird diese Alternative in Japan diskutiert?

Mycle Schneider: Umfassend. Die Online-Veranstaltung des Renewable Energy Institute, gegründet von Japans reichstem Mann, Masayoshi Son, in der Folge von 3/11, mobilisierte am 10. März 2021 über 2.000 Teilnehmer. Neben Son-san nahmen auch ein amtierender Minister, der Chef der Internationalen Erneuerbaren Energien Agentur IRENA, Energie-Vordenker Amory Lovins und Patrick Graichen, Direktor von Agora-Energiewende teil.

SOLARZEITALTER: Aber nicht nur in Japan setzt man weiterhin auf Atomkraft. In China wo über 6o Prozent der Stromversorgung über Kohlekraft abgedeckt wird – mit großen Luft-, Gesundheits- und Klimabelastungen – nahm vor einigen Tagen ein neues Atomkraftwerk seinen Betrieb auf. Auch wenn China sehr erfolgreich in Erneuerbare Energien investiert soll der Ausbau der Atomkraft weiter gehen. Das gilt auch für Frankreich. Wie wird das in den Ländern begründet?

Mycle Schneider: Dies ist keine korrekte Abbildung der Realität. Nach meiner Kenntnis ist 2021 bisher (Stand 25. März 2021) noch kein neues AKW in China ans Netz gegangen. Im Jahr 2020 waren es zwei mit einer Gesamtkapazität von zwei Gigawatt (GW). Im selben Jahr gingen 150 GW Solar- und Windkapazitäten in China ans Netz. Im 5-Jahresplan bis 2025 stehen 70 GW Atomkraft in Betrieb, das sind kaum mehr als die gegenwärtige und bereits im Bau befindliche Kapazität. Also ein Zubau von 19 GW in fünf Jahren. Gleichzeitig kündigten fünf große chinesische Stromunternehmen an, sie wollen bis 2025 insgesamt über 350 MW Erneuerbare hinzubauen. Selbst im einzigen Land, das noch nennenswerte Atomkapazitäten hinzubaut, wird Atomkraft vernachlässigbar.

Warum dennoch überhaupt AKWs weiterhin gebaut werden, ist Interpretationssache. China hat Unsummen in die komplette Herstellungskette für AKWs investiert. Heute kann man einen amerikanischen AP1000 oder einen europäischen EPR komplett in China herstellen, und zwar nicht nur nach westlichen Normen, sondern in danach qualifizierten Fabriken. Man heute keinen AP1000 in den USA und keinen EPR in Europa herstellen. Es fehlen dafür schlicht die notwendigen Anlagen. Jetzt erzählen sie mal dieser Industrie, nun selbst eine mächtige Lobby nahe des chinesischen Machtzentrums, dass nun leider alles zu teuer geworden und deshalb vorbei ist. Außerdem gibt es im Ausbauprogramm, insbesondere von Schnellen Brütern, auch militärisch-relevante Beweggründe. Frankreich in der Person von Präsident Macron hat erst kürzlich wieder erklärt, dass „unsere energetische und ökologische Zukunft“, „unsere wirtschaftliche und industrielle Zukunft“ und „unsere strategische Zukunft, von der Atomenergie abhinge.[2]

SOLARZEITALTER: In der Diskussion um den Klimaschutz wird die Atomenergie als CO2 neutral bewertet. Bill Gates macht dabei den Vorschlag CO2-Emissionen durch dezentrale kleine Atomreaktoren einzusparen. Atomkraft zum Klimaschutz? 

Mycle Schneider: Bill Gates bietet Powerpoint Reaktoren an und die Welt kauft. Herr Gates hat seine Atomfirma 2008 gegründet. Dreizehn Jahre später hat er nichts vorzuweisen, kein Prototyp, kein genehmigtes Design, nicht einmal ein Design im Genehmigungsverfahren irgendwo auf der Welt. Für solche Fantasiegebilde hat die Erde keine Zeit.

Die sogenannten Small Modular Reactors (SMRs) sind ja nicht neu. Mit solchen kleinen Modellen fing die Geschichte der Atomkraft an. Und seither wurden sie als Konzept in unzähligen Formaten immer wieder aufgelegt. Doch es ist eigentlich nicht so schwer zu verstehen, dass es nicht aufgehen kann. Die Reaktoren vom Typ EPR sind immer grösser geworden, nicht weil man etwa 1650-MW Reaktoren irgendwo bräuchte, sondern um die Kosten pro installiertem MW zu drücken. Will man nun kleine Reaktoren, sagen wir 30 – 300 MW, bauen, dann kann ich den Skaleneffekt nur über den Mengenrabatt wieder reinholen. Man müsste also Hunderte SMRs verkaufen, übrigens auch um überhaupt einen nennenswerten Effekt auf die Stromerzeugung zu haben. Das ist industriell vor 2040 ausgeschlossen.

Die einzigen in der neueren Zeit fertiggestellten SMRs sind zwei schwimmende 30-MW Reaktoren in Russland, deren Bauzeit mit 3,7 Jahren veranschlagt wurde, in der Realität aber 12,7 Jahre dauerte. Seit 2012 bastelt man in China an zwei 100-MW Modulen, in Argentinien seit 2014 an einem 25-MW Minireaktor. In den USA hat ein einziges Design eine „allgemeine Genehmigung“ erhalten. Ein Prototyp soll bis 2030 gebaut werden. Die Kostenschätzungen sind inzwischen auf die Größenordnung der teuersten EPRs gestiegen Alle Beispiele sind Demonstrationen der Unfähigkeit der Atomindustrie, ihre vollmundigen Versprechungen einzulösen.

Doch dramatischer ist Folgendes: Die Dringlichkeit des Klimaschutzes erfordert die Frage zu stellen, wenn ich einen Euro investiere, wie viel Treibhausgasemissionen kann ich einsparen wie schnell. Es geht also um die Kombination von Kosteneffizienz und Zeit. Die Investition in neue Atomkraftwerke jeglicher Art oder auch nur ihre Planung verschlimmert die Klimakrise, denn das Kapital steht für heute real existierende Lösungen nicht mehr zur Verfügung.

Der gleiche Ansatz gilt für Laufzeitverlängerungen existierender Reaktoren. Die meisten heute in der Welt betriebenen AKWs können mit klimaeffizienten Optionen nicht mehr konkurrieren. Viele Energieeffizienzpotentiale sind zu negativen Kosten zu haben. Die niedrigsten Preise für Strom aus Erneuerbaren sind nun nicht mehr in Asien, Südamerika oder im Nahen Osten, sondern in Europa. Der Weltrekord liegt bei 1,1 Cent pro kWh Solarstrom in Portugal. In Spanien gibt es nun kommerzielle Angebote für unter 1,5 Cent pro kWh für Solarstrom und 2 Cent pro kWh Windstrom. Da kann man dann auch noch locker 1–2 Cent oder mehr pro kWh für Speicherung drauflegen und liegt immer noch weit unter den reinen Betriebskosten für Strom aus den AKWs des letzten Jahrhunderts.

SOLARZEITALTER: Mycle Schneider, wir danken Ihnen herzlich für dieses Gespräch.

Das Interview führte Irm Scheer-Pontenagel, Herausgeberin Solarzeitalter

[1] Laut WNISR-Statistik. Die Internationale Atomenergie Organisation zählt diese 24 Reaktoren weiterhin als „in Betrieb“ obwohl die meisten seit 2011 oder noch länger keine Kilowattstunde Strom mehr geliefert haben. Eine Irreführung der Öffentlichkeit. Siehe https://pris.iaea.org/pris/CountryStatistics/CountryDetails.aspx?current=JP

[2] Emmanuel Macron, 8. Dezember 2020, siehe https://www.elysee.fr/emmanuel-macron/2020/12/08/deplacement-du-president-emmanuel-macron-sur-le-site-industriel-de-framatome